
Wenn die WERGO-Kantine des WIB Verbundes – besser bekannt als Weißenseer Integrationsbetriebe – um 11:30 Uhr öffnet, atmet das Team in der Küche zum ersten Mal richtig durch. Die Arbeit – die Zubereitung des Essens – ist geschafft. Jetzt muss es nur noch von den Gästen angenommen werden. Und das ist ein sehr gemischtes Publikum. Denn: Hier, in Weißensee, hat sich in den vergangenen Jahren eine lebendige Arbeitswelt entwickelt. Start-ups, etablierte Unternehmen und Behörden operieren Tür an Tür. Und natürlich haben alle um die Mittagszeit Hunger. Der Kiez am Antonplatz bietet die üblichen Möglichkeiten, dieses Bedürfnis zu stillen. Nicht sonderlich attraktiv oder kulinarisch interessant, aber satt machend.
Das Team der Kantine ist anders und will mehr. Hier arbeiten Menschen mit Beeinträchtigungen unter fachlicher Anleitung. Sie lernen die Arbeitsabläufe in einer Großküche und die erforderlichen Arbeitsschritte bei der Produktion von Salaten, Speisen und Desserts kennen. Der Fokus liegt auf einem personenorientierten Ansatz mit einer individuellen Förderung und der Vorbereitung für eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt. Getreu dem Leitmotiv des WIB Verbundes mit seinen Töchtern WIB GmbH, WERGO GmbH und WIB Integ GmbH: „Jeder Mensch ist Experte für seine Lebensgeschichte“. Das gilt also auch in der Kantine, die mittlerweile ein echter Treffpunkt im Kiez geworden ist.
Gemeinsam mit Menschen mit Beeinträchtigungen einen Kantinenbetrieb zu stemmen, ist eine Herausforderung. Marcia Walter, eine von zwei Fachanleitenden, ist seit September 2021 hier tätig. Genau wie ihr Kollege Martin Ohlemann, der nur wenige Monate später ins Team kam, arbeitete sie zuvor in der gehobenen Gastronomie – Walter in einem Berliner Restaurant als Küchenchefin, Ohlemann in gleicher Position auf einem Kreuzfahrtschiff. Irgendwann war für beide Schluss – aus unterschiedlichen Gründen.

Gutes, erschwingliches Essen

Hier können sie ihr Wissen anders einbringen. Mit tiefgreifender Expertise, sonderpädagogischen Zusatzausbildungen und der Vision, Gastronomie neu zu definieren und erlebbar zu machen, leisten sie Pionierarbeit. Sie produzieren nicht nur gutes und erschwingliches Essen für die Nachbarschaft und die Mitarbeitenden des Verbundes. So entstand auch ein Ort, der von Respekt, Förderung und Inspiration geprägt ist. Für die Beschäftigten wird eine Atmosphäre geschaffen, in der persönliches Wachstum und berufliche Entwicklung Hand in Hand gehen – alles im Einklang mit der klaren Mission: regional, saisonal und nachhaltig zu kochen. „Für mich steht die Qualität der Produkte, mit denen wir arbeiten, im Vordergrund“, sagt Martin Ohlemann. „Das war stets mein Ansatz, und genau hier trifft er auf fruchtbaren Boden. Die Beschäftigten sind motiviert und wissbegierig, um besser zu werden und sich weiterzuentwickeln. Das macht diese Arbeit so besonders.“
Doch diesen „fruchtbaren Boden“ musste sich das Leitungsteam erst erarbeiten. „Als ich hier anfing, wurden viele Convenience-Produkte verwendet, zum Beispiel abgepackte und geschwefelte Kartoffeln – das war erschreckend“, erinnert sich Marcia Walter. Ganz langsam und Schritt für Schritt wurden die Arbeitsabläufe überarbeitet und neu gedacht. Die Grundvoraussetzungen hätten dabei besser nicht sein können. Denn: Teil der Wergo GmbH ist ein eigener landwirtschaftlicher Betrieb, in dem Obst und Gemüse angebaut wird – Bio-zertifiziert. Er liegt nur wenige Kilometer entfernt von der Kantine entfernt und liefert einen guten Teil der Zutaten, die hier jeden Tag verarbeitet werden und auf den Teller kommen. Rund 80 Prozent der Produkte stammen aus dem Biogarten in Malchow.

Überzeugung und Aufklärung sind gefragt

In der täglichen Arbeit in der Kantine müssen viele unterschiedliche Erwartungen und Wünsche miteinander abgewogen werden – von den Beschäftigten bis zu den Gästen. Ein Tagesgericht kostet hier maximal 6,40 Euro – eine Ansage bei immer mehr hochwertigen Zutaten, die hier verarbeitet werden. Auch wenn die Kantine für alle geöffnet ist: Die Bedürfnisse des Küchenteams stehen genauso im Mittelpunkt wie die derjenigen, die im WIB Verbund und sich hier versorgen. „Wir wollen hier gut, gesund und lecker kochen“, sagt Walter, „Dabei müssen wir aber auch gegen Gewohnheiten und Erwartungen ankochen, die mit der Zeit gewachsen sind. Das ist manchmal nicht ganz einfach: Weniger Fleisch und Zucker müssen gut verpackt werden. Überzeugung und Aufklärung sind gefragt.“ Die Lösung ist oft die Verwendung eher unkonventioneller Produkte, die der eigene Garten zwar in ausreichenden Mengen hergibt, für die Kundschaft aber ein wenig „aufgehübscht“ werden müssen. „Schwarzkohl ist ein gutes Beispiel“, sagt Ohlemann. „Den kennen die Menschen entweder gar nicht, oder er hat ihnen bislang einfach nicht geschmeckt. Wir tricksen dann ein bisschen. Es geht um die Zubereitung.“
Das Heranführen erfolgt stufenweise. Vielleicht erst an der Salatbar, die hier in Weißensee ohnehin beeindruckend saisonal bestückt ist, und dann in einem Hauptgericht verarbeitet. Saisonal und regional sind Aspekte, die ohnehin immer mitgedacht werden: „Wir beziehen aus unserem Garten so tolle Produkte“, sagt Ohlemann, „Nicht nur einfach Tomaten, sondern bis zu zehn unterschiedliche Sorten. Alle Formen, Farben, Geschmäcker und Konsistenzen. Damit zu arbeiten, ist fantastisch. Und unsere Gäste spiegeln uns das.“ Im Hintergrund kümmert sich das Team darum, saisonale Produkte punktgenau zu verarbeiten und für mehrere Monate haltbar zu machen: einwecken, einlegen oder einfach einfrieren.
Auf dieser Grundlage begann auch die Zusammenarbeit mit Kantine Zukunft. Nachdem Marcia Walter und Martin Ohlemann die Grundlagen für nachhaltiges Kochen geschaffen hatten, ging es darum, dieses Konzept weiterzuentwickeln. Dieser Prozess ist nun fast abgeschlossen. Für Marcia Walter ist vor allem das richtige Tempo bei der andauernden Transformation von Bedeutung: „Mir zunächst ganz wichtig, die Qualität zu halten. Seit Januar 2025 haben wir unseren neuen Speiseplan. Der muss sich einspielen und beweisen. Natürlich wollen wir wachsen. Das muss aber langsam geschehen, denn wir müssen unsere Beschäftigten mitnehmen. Mehr Gäste sind immer toll. Und an Ideen mangelt es auch nicht. Schritt für Schritt nach vorne, das ist meine Idee. Gemeinsam mit unserem Team.“ Und Ohlemann ergänzt: „Wir arbeiten hier ja auch pädagogisch und betreuend mit unserem Team in der Küche. Stress und Überforderung können wir uns hier nicht leisten.“

Preis und Leistung sind attraktiv

Aktuell werden in der Kantine rund 150 Mahlzeiten pro Tag ausgegeben. Das klingt nach nicht viel, ist aber eine große kulinarische Bereicherung für den Kiez. Das wissen auch die Kids der Kita um die Ecke zu berichten, die von hier aus jeden Tag mit leckerem Essen beliefert werden. Und so sagen es auch viele Gäste. wie Veit. Er arbeitet um die Ecke und kommt seit dem Ende der Lockdowns hier essen – mindestens dreimal pro Woche. Heute ist er mit seiner Kollegin Kim hier. „Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt einfach. Und weil ich regelmäßig komme, gibt es auch immer einen Nachschlag“, sagt er und lacht. Besonders angetan ist er mittlerweile von den vegetarischen Gerichten. Mit denen konnte er eigentlich nie wirklich etwas anfangen, aber: „Meine Frau ist diesbezüglich sehr am Puls der Zeit – und ich esse hier immer öfter vegetarisch. Das schmeckt mir richtig gut.“ Kim ergänzt: „Ich mag die Experimentierfreudigkeit in der Küche – und die fairen Preise. Wo kann man sonst noch für 6,40 Euro gut und reichhaltig essen?“ Veit bringt es auf den Punkt: „Das ist ein besonderer Ort. Das Team, die Menschen, die hier arbeiten – ich fühle mich hier wohl.“
Damit es so bleibt, gehen Marcia Walter und Martin Ohlemann gemeinsam mit ihrem Team konsequent den eingeschlagenen Weg weiter. Die kulinarische Transformation in Berlin-Weißensee mit Unterstützung von Kantine Zukunft ist in vollem Gange.
Damit es so bleibt, arbeiten Marcia Walter und Martin Ohlemann gemeinsam mit ihrem Team schon jetzt an der nächsten Stufe der Kantine der WIB. Noch regionaler, noch saisonaler, noch leckerer – ohne Überforderung der Mitarbeitenden, dafür mit umso mehr Engagement für noch mehr Geschmack und Freude am Lunch.

Die Kooperation mit den Weißenseer Integrationsbetrieben unterscheidet sich von viele anderen Projekten von Kantine Zukunft. Die Einbeziehung von Menschen mit Einschränkungen erfordert eine besonders achtsame Herangehensweise. Mit dem eigenen Bio-zertifizierten Garten für die Produktion von Lebensmitteln sind die Weichen für eine erfolgreiche Transformation gestellt: Die Zusammenarbeit läuft voraussichtlich noch bis zum Sommer 2025.